Buche

Buche, zur Strasse hin weiss bemalt, als Schutz gegen des Klima der Strasse (C. Acklin)

Ich bin eine von Milliarden Kopfarbeiterinnen dieser Welt. Eine Gesellschaft, in der Wissen der Treibstoff für Innovationen und Entscheidungen in Bezug auf komplexe Herausforderungen ist, kommt nicht ohne uns aus. Wie viele andere verbringe ich den ganzen Arbeitstag vor dem Computer – manchmal mit Routinen beschäftigt, beutend seltener mit kreativer Denk- und Schreibarbeit. Bevor ich morgens zur Arbeit gehe, denke ich bereits darüber nach, was in meiner Mailbox oder auf meinem Desktop auf mich warten könnte. Und wenn ich mein Büro am Abend verlasse, bin ich oft gestresst wegen der vielen unerledigten Arbeiten. Sisyphus ist eine bekannte Figur für mich. Mit dem Kopf zu arbeiten bedeutet oft auch im Kopf zu leben.

Dieser Beitrag dreht sich jedoch für einmal nicht um meinen Kopf, sondern um etwas so Nebensächliches wie meinen Arbeitsweg. Er handelt vom Mikroklima und von Lebensräumen, die ich dort antreffe, einen nach dem andern, belebt durch Pflanzen und Pilze, unterbrochen durch Schwärme von Krähen oder die eine oder andere eilige Katze.

Wie sich Mikroklima und Lebensräume unterscheiden

Ich habe das Glück, dass ich meinen Arbeitsort in ziemlich genau 22 Minuten zu Fuss erreichen kann – oder eher 22 hin und 23 zurück. Ich starte auf dem Obstberg, leicht höher als die Berner Altstadt auf der andern Seite der Nydeggbrücke, und gehe über verschiedene Wege, Strassen und Strässlein hinunter bis fast an die Aare. Manchmal, aber längst nicht immer, gelingt es mir, auf eine andere Betriebsart umzustellen. Ich nehme mich selbst wieder wahr – inklusive meiner Verspannungen in Nacken und Schultern -, oder noch besser meine Umgebung, das Wetter, die Gerüche, Farben und Geräusche.

Ich habe die Höhenmeter nie gezählt, aber es sind an der steilsten Stelle meines Heimweges genug, dass ich durch den Anstieg leicht ins Schnaufen komme. Mir ist aufgefallen, dass das Klima auf dem Obstberg anders ist als weiter unten, gegen die Thunstrasse zu. Dass in der Nähe der Aare oftmals Feutigkeit vom Fluss als Nebel in der Luft hängt, der oben nicht vorhanden ist. Dass einige Pflanzen bei uns noch eine ganze Weile nicht blühen, obwohl sie es unten bereits tun. Dass ich es wohl nicht wagen würde eine Palme in unserem Garten zu pflanzen, aber weiter unten durchaus welche zu finden sind.

Man würde diese Unterschiede wohl schlicht als Klima-bedingt bezeichnen. Doch während wir oft denken, das Klima sei ein lokales oder regionales Phänomen, findet das Klima auf meinem Arbeitsweg in bedeutend kleinräumigeren Perimetern statt, eher als sich abwechselnde Mikro-Klimata. Stadtökologisch macht es einen Unterschied, ob eine bestimmte Pflanze unter den jeweiligen Bedingungen wachsen kann oder nicht. Jede gedeiht am besten in einem ganz spezifischen Lebensraum. Als Kopfarbeiterin bemerke ich diesen Unterschied vielleicht erst, wenn ich gerade zum hundertsten Mal denselben Raum durchschreite. Die immer gleichen Abläufe wie der Weg hin und zurück und die Beobachtungen der Wechsel der Jahreszeiten dabei unterstützen plötzliche Aha-Erlebnisse.

Das mögen nun ganz triviale Überlegungen sein. Ok, ich kann auf meinen Arbeitswegen oder Spaziergängen manchmal die Unterschiede dieser Lebensräumen sinnlich wahrnehmen. Doch was sich bei mir dabei abspielt, ist vielschichtig. Es vermischen sich das poetische, ästhetische Erlebnis von Natur mit Freude, Überraschung mit dem Wunsch, tiefer, durchaus auch im wissenschaftlichen Sinne, besser zu verstehen, was ich gerade am Wegrand angetroffen habe. Den Kleiber, den ich vor einigen Monaten in unserem Garten gesehen, danach auf der Webseite der Vogelwarte Sempach nachgeschaut habe, diesen Vogel würde ich nun wohl wie einen alten Kumpel erfreut begrüssen.

Ökologisches Bewusstsein

Doch selbst für mich als Kopfarbeiterin ist klar, dass Wissen allein nicht für ein ökologisches Bewusstsein reicht. Je mehr ich Vernetzung zwischen Pflanzen, Tieren und ihrer unmittelbaren Umgebung wahrnehme, desto besser verstehe ich zwar das Zusammenspiel von einigen der Faktoren in einem Ökosystem. Manchmal kann ich gegenseitige Abhängigkeiten erst mit der Zeit verstehen. Manchmal nicht, man denke an all die Mikroorganismen, die in diesen Lebensräumen eine unsichtbare Rolle spielen. Aber die Erkenntnis stellt sich zumeist nicht aufgrund einer systematischen wissenschaftlichen Beobachtung ein. Ich stehe nicht dort mit dem Notizbuch in der Hand. Die Erkenntnis ist im Gegenteil intuitiv das Resultat einer Synthese von vielen beiläufigen und nebensächlichen Momenten, die sich plötzlich zu einem Erfahrungswert kristallisieren. Mein ökologisches Bewusstsein basiert auch auf der Offenheit für und der Empathie mit der Natur. Es ist mehr als Wissen.

Gewisse Empfindungen lassen sich auch nicht so einfach aufschlüsseln. Wie etwa unlängst jene: In unserer Nachbarschaft stand in einem Privatgarten ein gross gewachsener alter Nadelbaum. Ich hatte mich nie bemüht zu verstehen, welcher Art er angehört. Dann eines Abends auf dem Heimweh sah ich, dass bis auf den Wipfel alle Äste weggesägt worden waren. Am nächsten Tag war er weg, fast schon ganz abtransportiert. Ich war schockiert. Ich kann es nicht anders beschreiben, aber noch Tage danach hatte ich den Eindruck, als fühlte ich die Präsenz des Baumes, wohl so, wie ein Mensch noch immer das amputierte Glied spürt. Mit dem Baum verschwand ein Lebensraum bestehend aus einer spezifischen Form der Beschattung der Nachbarschaft, einer spezifischen Farbe im Strassenzug und natürlich das Ökosystem, das gerade dieser Baum ermöglicht hatte: Nistplätzen für Vögel, Futterquelle für Insekten… Nun mag dieser Baum krank gewesen sein, er mag das Haus daneben gefährdet haben. Doch was ich dennoch verspürte, war ein Gefühl von Verlust.

Was ich mit diesem Beitrag auch sagen will: Es tut gut, sich für einige Momente am Tag für unsere natürliche Umgebung zu öffnen. Wir können dabei beglückende Erfahrungen machen und an einem Bewusstsein arbeiten, in dem wir nicht blosse ZuschauerInnen, sondern Teil des Mikroklimas und der Lebensräume sind, in denen wir leben und arbeiten.

 

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