Könizerwald bei Bern

Die Intelligenz der Wälder, Könizerwald bei Bern (C. Acklin)

Im allgemeinen ist Wissenschaft eine Gemeinschaftsleistung. Wie in einem Orchester tragen viele Forschende zur Entdeckung bedeutender neuer Erkenntnisse bei. Entsprechend neutral und ohne Rückschlüsse auf einzelne Persönlichkeiten kommt die Veröffentlichung der Resultate daher. In „Finding the mother tree. Uncovering the wisdom and intelligence of the forest“ beschreibt Suzanne Simard hingegen, wie sie als Forscherin auszog, um zentrale Denkschulen (Darwin himself) herauszufordern und die Forstwirtschaft Kanadas und ihre fragwürdigen Praktiken zu hinterfragen. Sie vermittelt uns die Leidenschaft hinter ihrer Forschung, führt uns durch ihre Biographie, ihr Frausein, ihre Krebserkrankung. Vor allem aber führt sie uns ihre Besorgnis über die Zerstörung der Wälder von Britisch-Kolumbien durch intensive Forstwirtschaft und die Auswirkungen des Klimawandels vor Augen. Und die Intelligenz der Wälder.

Darwins Lehre erweitert

Wir lernen in ihrem Buch eine Person kennen, die mit ihrer aussergewöhnlichen Karriere gleich mehrere Grenzen überschritten hat. So war sie eine jener Wissenschaftlerinnen, die durch eine lange Reihe von Experimenten nachweisen konnte, dass eine von Darwins Grundannahmen, nämlich dass die Evolution durch das „survival of the fittest“ gekennzeichnet ist, nicht die einzige treibende Kraft für die Wälder darstellt. Simard war auch ein “Change Agent”, die die sogenannte „free to grow“-Politik der kanadischen Behörden radikal in Zweifel zog und schon früh auf die Gefahren des Klimawandels für den Wald aufmerksam machte.

Doch lassen Sie mich nochmals von vorne beginnen: Suzanne Simard stammt aus einer Familie von Holzfällern, die noch ohne Kettensägen und Traktoren auskam. Ihre Vorfahren suchten auf Simard’s Mountain einzelne Bäume für ihre Ernte aus und fällten diese. Diese Bäume wurden von Pferden zum nächsten Fluss gezogen und dann den Fluss hinunter geflösst. Ihr Grossvater, Onkel, ihr Bruder hatten einen gefährlichen Beruf. Ihnen fehlten Finger, Ohren wurden abgerissen und wieder angenäht, ihr Bruder von einer Landwirtschaftsmaschine zerquetscht. Doch es gab in dieser Familie auch die Erfahrung dazu, wie man einen Wald bewirtschaften konnte, ohne ihn auszubeuten.

Simard studierte Forstwirtschaft und ihre ersten Jobs hatte sie bei industriellen Forstunternehmen, die grosse Teile der Wälder von Britisch-Kolumbien kahlschlugen. Sie war für die staatlich verordnete Wiederaufforstung dieser Flächen zuständig, beobachtete jedoch dabei, dass viele Sämlinge sehr bald wieder eingingen. Diese Beobachtung sollte der Ausgangspunkt einer ihrer ersten Entdeckungen sein: In funktionierenden Baumgemeinschaften sind die Wurzeln der Bäume (und auch ihrer Sämlinge) durch Mykorrhiza-Pilze vernetzt. Die Bäume sind durch unterirdische Netzwerke miteinander verbunden und tauschen Nährstoffe wie Stickstoff, Zucker oder Wasser aus. Jungbäume werden so von älteren Bäumen bei deren Wachstum unterstützt.

The Wood World Web

Zunächst im Rahmen von Projekten der Forstämter, später an Universitäten für ihre Master- und Doktorarbeit begann Simard Forschung zu betreiben. Sie hatte in ihrer wissenschaftlichen Karriere früh einen bedeutenden Durchbruch. Zusammen mit einem Kollegen konnte sie nachweisen, dass Birken und Douglasien Nährstoffe austauschen. Sie hatten ihnen CO2 mit zwei unterschiedlich markierten Isotopen zugeführt: der einen Sorte C13, der andern C14. Sie konnten dadurch verfolgen, wie das eine Isotop von der Douglasie zur Birke wanderte und das andere von der Birke zur Douglasie. Nature veröffentlichte einen Artikel zu ihrer Forschung und unterstrich die Wichtigkeit des wissenschaftlichen Durchbruchs durch das Titelblatt „The Wood Wide Web“ der Zeitschrift. Für diesen Artikel musste sie allerdings trotz Peer Review viel Kritik von britischen Kollegen einstecken, um nicht zu sagen deren paternalistische Häme.

Darum erstaunt es auch nicht, dass Simard bei der Forstwirtschaft und politischen Entscheidungsträgern auf wenig Gegenliebe stiess. In der kanadischen Forstwirtschaft gab es in den 80er- und 90er-Jahren eine „free to grow“-Politik, die einzelne, einträg­liche Baumsorten wie Nadelhölzer favorisierte und Birken, Erlen oder Eschen zu eliminieren trachtete, damit die Nadelbäume ungehindert wachsen konnten. Diese Politik hatte man der Landwirt­schaft abgeschaut, wo landwirtschaftliche Flächen durch Pestizide und Fungizide leer geräumt wurden, um darauf später Monokulturen anzubauen. Auch Wälder wurden mit Pestiziden besprüht, um selbst niedriges Buschwerk zu eliminieren. Selbst der Waldboden sollte rein­ daher kommen.

Etwa zeitgleich mit diesen Fehlanreizen für die Forstwirtschaft wurden erste Auswirkungen des Klimawandels in den Wäldern von Britisch-Kolumbien sichtbar. Simard warnte. Zusammen mit ihrer Kollegin Kathy Lewis an der University of Northern Britisch-Kolumbien schrieb Simard einen Leitartikel für die Vancouver Sun mit dem Titel “Neue Politiken zur Rettung unserer Wälder erforderlich“ (1). Die zwei wiesen darauf hin, dass Kahlschläge, “die Komplexität der Landschaft verringern und weitreichende ökologische Prozesse wie die Hydrologie, Kohlenstofflüsse und Artenwanderungen beeinträchtigen” würden. Sie beschrieben, dass die neu aufgeforsteten Wälder, die nur mit einer einzigen Baumart bepflanzt wurden, aufgrund von Insekten, Krankheiten und abiotischer Schäden zurückgehen würden, und prophezeiten, dass sich die Situation mit dem Klimawandel noch weiter verschärfen würde.

Die neue Denkweise

Bäume konkurrenzieren zwar um Licht, sie kooperieren aber auch um die Qualität des Waldes aufrecht zu erhalten. Bis dahin hatte das konventionelle Wissen vorgeherrscht, dass sich Bäume konkurrenzieren, Simard hingegen konnte nachweisen, dass Bäume durch Pilznetzwerke kommunizierten. Heute findet sich diese neue Denkweise überall. Viele Autor*innen von Sachbüchern haben sie aufgegriffen. Diese Erkenntnis sollte Simard immer weiter führen, zu weiteren empirischen Befunden wie etwa: Bäume können ihr eigenen Sämlinge unterscheiden von denjenigen anderer Bäume, sogenannte Mutterbäume sind Knotenpunkte in Wäldern, die zu ihrem Nachwuchs Sorge tragen, die aber auch andere Sorten mit Nährstoffen unterstützen, Bäume können sich innerhalb von 24 Stunden auf Schädlinge vorbereiten, sobald sich durch das Pilznetzwerk gewarnt werden. Sterbende Mutterbäume werden all ihre Ressourcen in den Boden und zu ihrem Nachwuchs leiten.

Simard beschreibt in ihrem Buch zwischen Autobiographie und Wissenschaftsbericht das Werk einer Forscherin, das viel zu einem kohärenten Wissen über Waldökologie beigetragen hat. Wie ein roter Faden zieht sich darin Wissen und Überzeugung durch, dass wir es bei Bäumen und Wäldern mit intelligenten Lebewesen und Ökosystemen zu tun haben.

(1) Simard, Suzanne. Finding the Mother Tree (S.235-236). Penguin Books Ltd. Kindle-Version.

Siehe dazu auch meine 2. Episode von “Die Natur und die Stadt”: Pilze in der Stadt mit Barbara Zoller